Bewerbung schreiben mit ChatGPT: Guter Einheitsbrei ohne Selbstreflexion
Ja, es kann heute so einfach sein – ein guter Prompt und gekonnt mit Lebenslauf und Stellenausschreibung gefüttert schreibt ChatGPT ziemlich gut klingende Anschreiben. Das Netz wird in den letzten Monaten geflutet von Tipps für Anschreiben mit ChatGPT und auch einige Karrierecoachs raten Bewerbern, lieber auf die KI statt das eigene Schreibtalent zu setzen. Meine Perspektive auf die Vorteile und Gefahren, ChatGPT für die eigene Bewerbung zu nutzen.
Ich bin fasziniert von den Möglichkeiten, die uns KI-Technologien in einem beeindruckend rasanten Entwicklungstempo bieten. Doch gleichzeitig sehe ich auch die Risiken als Schattenseiten der Nutzung von KI und in diesem Fall für das Bewerbungsschreiben. Insbesondere, wenn es wie im Bewerbungs- und Recruiting-Prozess darum gehen sollte, dass Menschen Menschen kennenlernen sowie in der Rolle als Arbeitgeber und Jobwechsler gut passend zueinander finden.
Oder anders ausgedrückt: Wer ChatGPT seine Bewerbung schreiben lässt, darf sich nicht darüber echauffieren, dass irgendein Matching-Algorithmus automatisiert in der nächsten Sekunde die Absage retour schickt.
Eigene Klarheit ist die Basis für starke Bewerbungen
Aus meiner Erfahrung mit rund 2.000 Jobwechslern sind es weniger der schick durchdesignte Lebenslauf und das hochtrabend seriös formulierte Anschreiben, die zum neuen Arbeitsvertrag führen, sondern der eigene Weg aus Selbstreflexion, bewusstem und konsequentem Handeln sowie einer guten inneren Haltung.
Die eigene Klarheit darüber, was für den nächsten Schritt im Beruf und in einem neuen Job bei einem Arbeitgeber wirklich wichtig ist. Das Bewusstsein über die eigenen Stärken und hieraus abgeleitet eine gute Vorstellung von der idealen Job-Spielwiese. Die eigene Sicht auf die vorhandene Berufserfahrung und das, was dieses Erfahrungswissen auch abseits von Branchen- und Produktwissen sowie reiner Aufgaben- und Tätigkeitsbeschreibung wertvoll macht.
Wer über diese Klarheit nicht verfügt, kann die schönsten Lebenslaufvorlagen aus dem Netz saugen und mit Allgemeinplätzen füllen sowie auch ChatGPT das passende Anschreiben zur Zielposition formulieren lassen – dies alles ist jedoch für die gezielte Jobsuche, die anschließende Klarheit im Gespräch mit Arbeitgebern sowie auch eine bewusste Entscheidung für den passenden nächsten Job keine Hilfe.
Bewerbung schreiben mit ChatGPT: Wenn die Selbstreflexion auf der Strecke bleibt
Auch wenn viele Arbeitgeber heute auf ein Anschreiben als Teil der Bewerbung verzichten (was ich in diesen Fällen für einen Fehler halte), sehe ich täglich bei meiner Arbeit mit Bewerberinnen und Bewerbern, wie wichtig und wertvoll für sie dieser Prozess bis hin zum fertigen Dokument ist. Es ist nicht das Schreiben an sich oder die Ausformulierung sprachlich mitreißender Sätze, sondern auf Papier zu bringen und so selbst auszusprechen, was in Zukunft wichtig ist, was konkret die Vorstellungen und Erwartungen an einen neuen Job und Arbeitgeber, die Führungskraft oder ein Team sind.
Gelangen wir im Karriere-Coaching zu den Bewerbungsunterlagen, dann könnte ich das Anschreiben für viele meiner Klienten selbst und für sie vollständig verfassen. Weil wir vorher gemeinsam ein Bild von den passenden Zielpositionen oder Arbeitgebern erarbeitet haben und ich sie als Menschen mit ihren Stärken und ihrer Persönlichkeit intensiv kennengelernt habe. Doch ich mache es nicht. Die erste Version eines Lebenslaufs sowie Anschreibens müssen sie selbst leisten – ich mache danach den Feinschliff. Die Selbstreflexion sowie der eigene Transfer dieser Erkenntnisse in die Bewerbungsunterlagen sind aus meiner Erfahrung der wahre Schlüssel zum Erfolg im Bewerbungsprozess und der beste Schutz vor Blind Signing, dem zu schnellen oder unreflektierten Unterschreiben eines Arbeitsvertrags.
Dies alles kommt mit „Hey, ChatGPT, schreibe mir ein Anschreiben!“ nicht nur viel zu kurz, sondern ich habe die Befürchtung, dass unsere Fähigkeit zur Selbstreflexion mit zunehmender Abgabe von Selbstverantwortung an die künstliche Intelligenz mit der Zeit und spätestens über Generationen weiter verkümmern wird.
ChatGPT produziert guten oberflächlichen Einheitsbrei
Zurück in die Gegenwart. ChatGPT generiert Neues auf Basis von Altem. Auch wenn sich der Stichtag der Datenbasis mit jeder neuen ChatGPT-Version immer weiter an das Heute annähert, so bleibt es bei Strukturen und Inhaltsschnipseln, die die KI schnell und schlau zu Neuem kombiniert.
Die Ergebnisse sind gut, keine Frage. Doch die Anschreiben aus ChatGPT, die mir Bewerber inzwischen ins Coaching mitbringen, sind im Vergleich zu den Texten, die wir gemeinsam im Prozess erarbeiten langweiliger, oberflächlicher Einheitsbrei. Gut geschriebene Texte mit klarer Struktur, jedoch unpersönlich, Schema-F und ohne Mehrwert über den Lebenslauf hinaus. Wer es schafft, ChatGPT mit der Stellenausschreibung zu füttern, der findet die Keywords aus den Anforderungen samt Schleimerei zum Arbeitgeber auch im Anschreiben wieder. Ich verstehe jeden Recruiter, der sich entscheidet, auch solche Anschreiben nicht mehr zu lesen.
ChatGPT als Inspiration, der Mensch macht den Unterschied
Ich hoffe, es wird bis hierhin schon klar, dass ich ChatGPT und auch dessen Einsatz für Bewerbungen nicht verteufele. Ich halte es jedoch für gefährlich, das eigene Denken an den Nagel zu hängen – nach dem Motto „ChatGPT weiß ja, wie es geht und kann eh die besseren Texte schreiben.“ … und … „Das machen ja eh heute alle so“ … und … „Anschreiben sind eh unwichtig, die werden ja nicht mehr gelesen“. Bei diesen Gedanken lohnt sich selbst die Mühe nicht, ChatGPT zu füttern.
ChatGPT macht aus meiner Erfahrung einen super Job, wenn es um Struktur und Inspiration zu einem Themengebiet geht. Ich habe mal verschiedene Fragen formuliert sowie mehr oder weniger Informationen zur Verfügung gestellt und so sehr unterschiedliche Anschreiben generieren lassen. Dies auszuprobieren und so auch ein Gefühl für eine passende Struktur sowie gute Formulierungen zu erhalten, kann insbesondere für jene Menschen wertvoll sein, die weniger Sprach- und Schreibtalent besitzen.
Für mich ist es (aktuell noch) die Kombination aus Technologie und Menschenverstand, die zumindest für so etwas wie einen persönlichen Begleitbrief zum Lebenslauf, der einen Leser neugierig auf den Menschen hinter der Bewerbung machen soll – und mehr ist ein Anschreiben nicht – die beste Wirkung zeigt.
Wer mag, generiere sich ein gut klingendes Anschreiben mit ChatGPT und ergänze solche persönlichen Details, die den Unterschied und einen Leser erst neugierig auf den Menschen machen. Dieser Meinung ist übrigens auch ChatGPT selbst :)
Bewerbung: Sagen, was Sache ist statt Floskel-Sammlung
Ich habe es ausprobiert und ChatGPT mit einer wahllos ausgewählten Stellenausschreibung für die Position als „Marketing Manager – Fokus Leads“ bei HelloFresh gefüttert. Bei der ersten Version hätte ich als Leser nach dem ersten Satz die Lust verloren, denn sie begann so:
Sehr geehrte Damen und Herren,
mit großem Interesse habe ich Ihre Ausschreibung für die Position als Marketing Manager – Leads bei HelloFresh gelesen.
Mehr ausgelutschte Standardformulierung und null Informationsgehalt gehen nicht und es dürfte heute kein Geheimnis sein, dass so ein Einstieg ein Abturner ist. Also habe ich ChatGPT eine zweite Chance gegeben und aufgefordert, eine neue Version mit modernerem Einstieg zu verfassen:
Hallo HelloFresh-Team,
‚“Wir von HelloFresh möchten für immer verändern, wie Menschen essen…“ – dieser leidenschaftliche Einstieg in eure Stellenausschreibung hat mich direkt gepackt!
Das ist schon besser – wenn natürlich auch von der KI so erfunden und für meinen Geschmack mit dieser Schleimspur etwas zu anbiedernd. Wäre ich der Recruiter und würde täglich aufs Neue erfahren, dass mein Unternehmensslogan der Grund für eine Bewerbung war, würde mir schnell – sehr schnell – sehr langweilig.
Danke an dieser Stelle, ChatGPT :)
Denn tatsächlich ist womöglich dies die ehrliche Wahrheit und echte Wechselmotivation, die ChatGPT nicht kennen kann, einen Bewerber jedoch erst so richtig greifbar macht:
Liebes Team von HelloFresh,
nach knapp zehn Jahren als Marketing-Manager in der Verwaltung der Stadt Köln ist mir langweilig geworden und ich sehne mich nicht nur nach mehr Abwechslung in meinem Job, sondern auch nach einer anderen Branche mit Produkten, für die ich echte Leidenschaft empfinde. Eure Stellenausschreibung klingt hiernach und kommt daher wie gerufen.
Mein Fazit
ChatGPT ist ein starkes Tool und ich bin gespannt, wohin uns in Zukunft KI-Technologien führen werden. Die Anschreiben, die ChatGPT generiert, klingen auf den ersten Blick gut. Wem es darum geht, die Keywords aus einer Stellenausschreibung nahezu perfekt unterschwellig in ein Bewerbungsschreiben zu verpacken, dem gelingt dies mit ChatGPT in Sekundenschnelle. Doch dies ist nicht der Ansatz für ein Anschreiben, den ich verfolge und Bewerbern empfehle. Denn der Mehrwert für einen Leser, der seine eigene Ausschreibung kennt, ist so gleich Null und jedes Anschreiben mit dem Wissen um die Möglichkeiten von ChatGPT umso mehr ohne Erkenntnis.
Es geht mir um mehr Klarheit über einen Lebenslauf hinaus und den Blick in die Zukunft. Diese Klarheit als Ergebnis von Selbstreflexion kann eine KI nicht leisten – wenn wir sie nicht zuvor mit den Ergebnissen unseres Denkens füttern. Zudem ist der Prozess der Entwicklung der eigenen Bewerbung extrem wichtig, ja fast wertvoller als das fertige Dokument. Hier sehe ich die größte Gefahr bei der Nutzung von ChatGPT. Selbstverantwortung, Reflexionsvermögen sowie bewusstes Entscheidungen treffen als Chef des eigenen Lebens werden umso stärker verkümmern, je mehr wir unser Denken an eine künstliche Intelligenz delegieren.
ChatGPT kann inspirieren und zusammenfassen, Struktur schaffen und fehlerfrei schreiben. Doch uns als Menschen hinter einer Bewerbung kennen nur wir selbst. Mit der echten Wechselmotivation, den Erwartungen an einen neuen Job und Arbeitgeber sowie persönlichen Stärken und Talenten. Das ist der Kern eines Anschreibens, das sich noch lohnt, zu lesen. Alles andere ist gut getexteter Einheitsbrei.
(Titelbild: Durch KI generiert mit Midjourney)
Toller Artikel!